Jackie – Filmkritik

„Wo warst du, als John F. Kennedy ermordet wurde?“

Generationen von Menschen haben darauf eine Antwort. Die Zeit stand damals still. Später sagte man, dass die USA durch den Anschlag ihre Unschuld verloren hat.
Bücher und Filme, Gemälde und Gedichte haben das Geschehene verarbeitet. Jeder hat vom 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gehört. Die meisten haben eine Idee von seinem Wirken. Politisch sowie gesellschaftlich. Stephen King bezeichnet ihn in seinen „Dark Tower“ –Büchern als „gunslinger in his own way“ und „the last gunslinger“. Die höchste Ehre in diesem und vielen anderen Universen der Buchreihe. So etwas wie ein Jedi oder ein Ritter der Artus Sage.

Die First Lady, Jacqueline „Jackie“ Lee Bouvier Kennedy, wurde zur Stilikone und „machte durch ihren modischen Stil und ihre Bemühungen um die Kulturförderung auf sich aufmerksam.“ (wikipedia) Bla bla bla. Klischees dominieren die Berichte über ihr Leben.

Ein neuer, biografischer Film über sie kommt nun in unsere Kinos. Was kann uns der über die Frau, ihre Zeit und die Umstände rund um den Anschlag erzählen, was wir noch nicht in unzähligen Fernsehfilmen und Dokus und dem Film von Oliver Stone gesehen haben?
Die Antwort findet Regisseur Pablo Larraín in einem Filmkunstwerk, das seinesgleichen sucht.

Fangen wir bei der Bildgestaltung an. Larraín und sein Kameramann Stéphane Fontaine haben sich dafür entschieden den Film auf 16mm zu drehen. Inklusive veralteter Entwicklungsmethoden und einem, für heute, ungewöhnlichen Bildformat: 1:1,66.
Warum der Aufwand und die Einschränkung der Bildqualität? Weil man dadurch von der ersten Sekunde des Films an, in die damalige Zeit zurückversetzt wird. Eingebundenes dokumentarisches Material aus den 60er Jahren fügt sich nahtlos in den Film ein. Lampen reißen glühende weiße Löcher in den Film, der Himmel überstrahlt die Landschaft; Wolken kann man keine sehen, weil das Filmmaterial die Helligkeitsunterschiede nicht abbilden kann. Aber keine Sorge, auf den Himmel werdet ihr nicht schauen. Denn meistens seht ihr Natalie Portmans Gesicht. Es scheint, als ob sie das Zentrum dieser Welt wäre. Selbst wenn sie mit ihrem Präsidentengatten aus Air Force One aussteigt, klebt die Kamera an ihrem Gesicht. JFK wird in die zweite Reihe verbannt, in der eigentlich die First Lady ihren Platz hätte.
Und genau das ist der Geniestreich des Films.
Wir bekommen die Chance Jackie Kennedy rund um den Anschlag zu beobachten und bekommen dadurch sozusagen visuelle Sekundärliteratur zu den bekannten Bildern von damals. Jeder kennt den „Zapruder Film“, der die Sekunden des Attentats festgehalten hat. Oder das Salutieren seines fast dreijährigen Sohnes bei der Beerdigung. Vieles davon wird angedeutet, das Meiste aber gar nicht gezeigt. Die Geschichte wird als Grundwissen vorausgesetzt. Der Rest sind subjektive Ausschnitte, aus der turbulenten Zeit nach den Schüssen in Dallas. Zum Beispiel sehen wir Jackie in einer minutenlangen Montagesequenz durch das Weiße Haus wandeln. Ein neues Kleid in jeder neuen Einstellung. Dazwischen Vodka, Pillen, Zigaretten, Tränen, … Wie ein Geist bewegt sie sich durch das unwirkliche Puppenhaus. Ein anderes Mal müssen wir miterleben, wie sie ihren Kindern erzählt, dass Daddy nicht mehr nach Hause kommen wird.

Wir werden nie wissen was wirklich passiert ist während dieser Tage. Trotz Augenzeugenberichten und Protokollen. Aber was Pablo Larraín hier gelingt, ist eine sehr subjektive Auswahl an Szenen, die am Ende ein emotionales Gesamtbild einer historischen Figur ergibt. Damit macht er genau das, was ein Dokumentarfilm laut Definition nicht machen kann und darf. Und er wird dadurch zu einem vollkommeneren Abbild der Geschehnisse.

Der Film vermag es gleichzeitig die Menschlichkeit hinter dieser Ikone zu zeigen und ihr ein Denkmal zu schaffen. Oft ertappt man sich dabei, dass man enttäuscht ist zu sehen, dass diese Übermenschen auch Gefühle und Schwächen hatten. Aber genau das zeigt ihre Stärke. Während die gesamte Welt auf sie geschaut hat, hat sie, trotz großer Gegenwehr einer von Männern dominierten Welt, ungewöhnliche und kulturell wichtige Entscheidungen getroffen und hat sich dadurch von einer wikipedia-Stilikone, einer Figur aus der zweiten Reihe, einem Menschen, der sich von einer Rolle in die nächste geworfen wiederfand, zu einer wahren Ikone gewandelt. Sie repräsentierte das Leid und die Trauer für alle mitfühlenden Menschen. Sie wurde zu einem Archetyp. Und wir sehen, dass vieles davon bewusste Entscheidungen waren, die ein geniales Verständnis für die damaligen Medien beweisen und ihr Gefühl für Außenwirkung und Image zeigen.
Sie bewegt sich durch eine, bis in die kleinsten Nebenrollen perfekt besetzte Welt und muss funktionieren und das machen was von ihr erwartet wird. Während die Männer mit ihren Krawatten und Zigaretten im Raum herumstehen und glauben Entscheidungen treffen zu müssen, ihre Ehefrauen betroffen auf den Sofas sitzen und trösten und beschwichtigen wollen, nimmt Jackie Stellung, initiiert Aktionen und weiß zu jeder Sekunde wie alles beobachtet und bewertet wird.
Untermalt wird der voyeuristische Blick von den eindringlichen Klängen von Mica Levi, die uns schon bei „Under the Skin“ Gänsehaut und Albträume beschert hat.

Überhaupt muss hier eine kleine Warnung stehen. „Jackie“ ist kein Mainstreamfilm. Trotz der Besetzung und des Themas. Vielmehr flackert da 100-minütige Filmkunst über die Leinwand. Teilweise wie ein Tagebucheintrag, dann wieder wie ein Gedicht, ein Mantra, das einen in einen depressiven Trancezustand versetzt, …
Geplant war ursprünlich Darren Aronofsky auf dem Regiestuhl. Dieser fungiert bei „Jackie“ nun als Produzent und hat Larraín die Regie überlassen. Geblieben ist der für Aronofsky typische Arthouse Stil und die rohe Emotionalität.

Wer Plot und Charakterbögen sucht wird diese nicht finden. In diesem filmischen Meisterwerk wurde mehr ausgelassen, eingeschränkt und reduziert als in allen anderen Filmen, die in den letzten Jahren in die Kinos kam. Aber genau durch diese Fokussierung auf das Wesentliche, nämlich auf die von Natalie Portman perfekt dargestellte Jackie Kennedy, bekommt man einen viel besseren Blick auf die Geschehnisse und die Welt von damals, als das in einer klassischen Dramaturgie und Inszenierung je möglich wäre. Nämlich einen emotionalen. Einen „echteren“. Einen vollkommeneren.
Zusammen gehalten wird der Film durch zwei sehr unterschiedliche Interviews. Eines vor der Fernsehkamera eines Senders, der sie durch das Weiße Haus begleitet und ein intimeres mit einem Journalisten bei ihr zu Hause. Man springt ohne Erklärung von einer Zeit zur nächsten und wieder zurück, ohne das auch nur einmal nicht nachvollziehen zu können. Was der Regisseur und sein Schnittmeister hier gezaubert haben ist unvorstellbar komplex, erscheint aber mühelos und organisch.

Vorsicht vor der deutschen Synchronfassung! Die sprachlichen Nuancen, die Portman bei der Darstellung vor den Fernsehkameras, bei der Beichte, oder mit Vertrauten durchscheinen lässt verkommen zu einer Karikatur. Wer wissen will, warum sie wohl den Oscar gewinnen wird, sollte sich den Film im Original ansehen.

Leichte Kost ist „Jackie“ nicht, aber entgehen sollte man sich diesen Film nicht lassen. Schon alleine deshalb, weil es an ein Wunder grenzt, dass ein solch künstlerisch hochwertiger Film einen Verleih findet und sich sogar in unsere Mainstreamkinos verirrt. Das sollte gewürdigt und unterstützt werden. Vielleicht sehen wir ja dadurch ein bisschen mehr dieser Art.

Stellt sich also nur noch die Frage:

„Wo warst du, als Jackie in den Kinos gelaufen ist?“

Bewertung:
5 von 5 Filmrollen

 

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Jackie
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